Wandertagebuch Jakobsweg April 2023

Woche 3: Quatre Chemins nach Golinhac, 72,7 km. Stopp and Go

Nach ein paar Tagen Genesungsspause in Aumont-Aubrac mache ich mich vorsichtig wieder auf den Weg. Ich laufe 10-12 km pro Tag, in der Hoffnung, dass sich die Achillessehnen nicht weiter entzünden. Daher führt mich diese Etappe in das Dorf Quarte Chemins, das nur aus ca. 4 Häusern besteht. In der Herberge habe ich nicht reserviert, denn nachdem mich das übermäßig Zeit und Nerven gekostet hat, entscheide ich mich täglich für den Aufbruch ins Unbekannte und vertraue darauf, dass sich immer eine Lösung finden wird. Es regnet, als ich in der kleinen Siedlung ankomme. Ich trete in die Herberge ein und treffe die Dame des Hauses. Ich sage, dass ich nicht reserviert habe. Zunächst sagt sie, sie wäre ausgebucht, findet aber noch ein Bett für mich. Mein Vorsatz, ab jetzt auf Reservierungen zu verzichten, führt also nicht dazu, dass ich auf der Straße oder in der Käte schlafe. Ich freue mich darüber, dass ich heute damit Erfolg hatte. In der Herberge sind noch andere Solopilger und eine Gruppe.

Dass ich nicht mehr reserviere, hilft mir, aber dennoch geht es mir nicht so gut. Ich möchte von diesem kalten Hochplateau runter. Dann könnte ich im Zelt übernachten und wäre unbeschwerter, was die Schlafplatzsuche angeht. Denn obwohl ich für das Schlafen im Zelt etwas nachgerüstet habe, indem ich ein warmes Fleece-Inlett gekauft habe, ist mir die Zeltübernachtung nach einem Tag in der Kälte nicht geheuer. Außerdem wäre ein Wandertag entspannter, wenn ich mich in der Sonne ins Gras legen kann. Stattdessen verbringe ich meine Pausen bibbernd auf einem Stein oder einer Bank und halte mich nicht lange auf.

Ich habe Schwierigkeiten damit , mein warmes zu Hause und geordnetes, vorhersehbares Leben verlassen zu haben. Die Routine des Fernwandererlebens hat sich noch nicht eingestellt. Ich vermisse Ruhe und Wärme. Auf die Temperaturen auf über 900m Höhe im April bin ich nicht ausreichend vorbereitet. Die Franzosen sind wahnsinnig freundlich und kontaktfreudig. Und wenn niemand zum Reden da ist, reden sie mit sich selbst. Im Schlafsaal hört man dann rhetorische Fragen wie z.B.: "Wo sind denn meine Socken?" oder "Ich muss mein Telefon aufladen". Wenn sie mich beim Wandern überholen, gibt es ganz sicher ein paar Worte wie "Ganz schön kalt, hä?" oder "Puh, steiler Anstieg". Mir war ist diese Eigenschaft neu. Ich finde das im Grunde sehr sympathisch, aber im Moment bin ich so sehr mit der Umstellung auf das Fernwandererleben beschäftigt, dass ich viel Ruhe brauche. 

Quarte Chemins - Nasbinal

Beim Frühstück in der Herberge in Quatre Chemins sprechen wir über unsere Etappenziele für den Tag. Der Herbergswirt sagt: " Oh, du gehst nach Nasbinal! Ich hoffe, du hast eine Reservierung, denn dort es ist alles ausgebucht." Ich versuche, mich davon nicht irritieren zu lassen und murmele beiläufig in meine Kaffeetasse: "Ich weiß." Eine Reservierung habe ich nicht und ich habe vor, mein Glück vor Ort zu versuchen.

In Nasbinal frage ich zuerst in der erst besten Herberge auf dem Weg und lasse mich abwimmeln. Kein Problem, denn es gibt noch mehr Herbergen. Ich gehe also in die nächste. Nach etwas Hickhack wird dort ein Notschlafplatz im unausgebauten Teil des Dachgeschosses für mich geschaffen. Der andere Teil des Dachs ist zu einem Zimmer ausgebaut und ich schlafe im Grunde vor der Zimmertür. Den beiden Zimmerbewohnern wird gesagt, dass ich mich auszuruhen muss. Sie sind sehr rücksichtsvoll und leise. Ich bin allen sehr dankbar, dass sie dieses Bedürfnis respektieren. 

Am nächsten Tag fällt mir jedoch das Aufbrechen schwer. Ich weiß nicht so richtig, wie ich mich an die Kilometerbegrenzung halten soll, die für meine Sehnen wichtig ist, ohne die Nacht im kalten Zelt zu verbringen. Ich komme im Aufenthaltsraum mit dem Hospitalero (so nennt man ehrenamtliche Herbergswirte) und Serge aus Holland ins Gespräch. Sie merken, dass es mir nicht gut geht. Der Hospitalero bietet mir daraufhin an, eine weitere Nacht dort zu verbringen. Er findet ein Zimmer ganz für mich allein in der hinterletzten Ecke der Herberge. Alle Zimmer drumherum sind leer. Ich kann das Zimmer von innen mit einem Schlüssel abschließen und diese kleine Geste erleichtert mich. Es strengt mich an, ständig Französisch zu reden. Meine Gedanken sind besetzt durch die Sorgen um den Fortgang meiner Reise. Dadurch fallen mir oft Wörter nicht ein, die ich eigentlich kenne und ich habe Mühe, mich auszudrücken.

Sobald ich in die Küche der Herberge gehe, um mir etwas zu essen zu machen, werde ich von anderen Pilgern angesprochen: "Bis wohin gehst du? Wo bist du losgelaufen?" und wenn sie meinen Akzent bemerken fragen sie: "Wo kommst du her?"
Auf dem Jakobsweg muss wirklich niemand allein bleiben. Aber wer allein bleiben möchte, muss sich darum bemühen. 

Nasbinal nach St. Chely

Nach diesem Ruhetag fühle ich mich etwas besser, aber der Masterplan für diese Etappe fehlt mir immer noch. Meine Idee ist es, erst am Nachmittag loszugehen. Wenn ich nur 10km laufe, dann komme ich spät genug an, um mein Zelt aufzubauen, zu essen und in den Schlafsack zu kriechen. Ich habe dann aber die meiste Zeit des Tages im Warmen verbracht und so sollte die kalte Nacht erträglicher sein als nach einem Wandertag in der Kälte. Wieder zögere ich meinen Aufbruch hinaus und rede mit dem Hospitalero. So kommt dann noch noch ein guter Plan zustande: Ich laufe ca. 9km ins Dorf Aubrac. Dadurch erlebe ich den schönsten Teil des Aubrac zu Fuß. Es ist karg, rauh und leer in einem positiven Sinn. Im Dorf Aubrac holt mich der Hospitalero mit dem Auto ab und bringt mich nach St. Chely, wo er sowieso etwas zu tun hatte. Dieses Dorf liegt 300m tiefer. Während wir bergab fahren, atme ich etwas auf: Endlich verlasse ich die Kälte. Jetzt dauert es nicht mehr lange und die Temperaturen werden für mich angenehmer. In St. Chely spüre ich bereits den Unterschied: Die Sonne hat mehr Kraft, das Gras ist grüner, der Frühling weiter vorangeschritten. René, der Hospitalero, bemerkt, wie mich das verändert. Plötzlich kann ich strahlen und er sieht mich zum ersten Mal lachen.

In St. Chely muss ich erst eine Unterkunft suchen. Das Schicksal ist auf meiner Seite. Eine Kollegin meiner Schwester ist gerade in der Nähe unterwegs und wir sind in Kontakt miteinander. Ein paar Tage zuvor hat sie Guillaume kennengelernt, der in diesem Ort eine Herberge zusammen mit seiner Frau Hélène betreibt. Ist das vielleicht ein Wink des Schicksals darauf zu vertrauen, dass ich immer einen Schlafplatz finden werde? Ich versuche als erstes dort mein Glück und tatsächlich: Jemand hat storniert und er hat einen Platz für mich frei. Die Herberge hat sehr privaten Charakter. Es ist das Haus seiner Familie. Im Kamin brennt ein Feuer und die Atmosphäre ist warm und liebevoll. 

Wir reden über Ängste, die Menschen auf den Weg mitbringen. Da sind zum Beispiel, die Angst, es physisch nicht zu schaffen, Angst, auf der Straße zu schlafen oder die Angst vor der Kälte, die mich bisher angetrieben hat. Guillaume und Hélène beobachten außerdem, dass Pilger sich derzeit gegenseitig Angst machen wegen der erschwerten Schlafplatzsuche. Es sind deutlich mehr Pilger unterwegs als zu dieser Zeit üblich und so füllen sich die Herbergen schnell. Am Abend macht mir Guillaume vor dem Schlafengehen einen Wickel aus einer Art Heilerde (frz. "Argile"). Ich mache ein paar Witze darüber, dass er und seine Frau mich aus der "kalten Hölle des Hochplateaus" gerettet haben. Ich fühle mich gut aufgehoben und bin unglaublich dankbar für diese Insel der Herzlichkeit, die Guillaume und Hélène geschaffen haben.

Von St. Chely nach irgendwo im Wald

Am nächsten Morgen gehe ich berührt von dieser Erfahrung weiter. Es geht viel bergab und ich lasse an diesem Tag das Hochplateau endgültig hinter mir. In dieser Nacht schlage ich mein Zelt im Wald auf. Es tut mir gut, in der Natur zu sein. Unter mir rauscht ein Bach und nachts ruft ein Käuzchen. Ich bin einfach mal mit mir allein. Die Nacht verläuft ruhig. 

Vom Waldschlafplatz nach Espalion

Die darauf folgende Etappe führt mich 14km nach Espalion. Eigentlich etwas viel für meine Sehnen, aber ich fühle mich gut. Ich gehe langsam und verteile viel Gewicht auf meine Stöcke. In Espalion möchte ich immer noch für mich sein und schlage mein Zelt auf dem fast leeren Campingplatz auf. Espalion ist eine Kleinstadt. Hier habe ich etwas zu erledigen. 

 

Am Morgen gehe ich bei der Abreise aus Espalion zur Post und schicke die wärmsten Wintersachen nach Hause. Ich brauche sie nicht mehr, weil ich endlich in einem wärmeren Gebiet angekommen bin. Ein gutes Gefühl.

 

Von Espalion gehe ich weiter nach Estaing, das eines der schönsten Dörfer Frankreichs ist. Das ist ein Zertifikat, das französische Dörfer bekommen können. Estaing hat diese Auszeichnung auf jeden Fall verdient. Die Herberge ist ebenfalls ausgebucht, aber ich bekomme als Notlösung das Gästezimmer des Wirtes Davide mit meinem eigenen Bad. Ich lerne Fabian kennen, den ich unterwegs immer wieder getroffen habe. Wir trinken eines der leckersten Biere, das ich je getrunken habe. Fabian geht bis San Jean Pied de Port (das Ende des Via Podiensis) und möchte aus seinem Jakobsweg eine kulinarische Reise machen. Ich nehme mir vor, daran teilzunehmen. Wegen der Probleme mit meinen Füßen wird Fabian mich aber schon bald abhängen und seine kulinarische Reise ohne mich machen.

Es stellt sich ausserdem ein schwer stillbarer Hunger ein. Ich hatte beim Einkaufen im Dorfladen noch geschätzt, dass vom Abendessen etwas für das Frühstück übrigbleiben würde. Es gibt Hacksteak und weiße Bohnen und ich verdrücke alles auf einmal.

Von Estaing  nach Golinhac

Als ich aus Estaing nach Golinhac aufbreche, fühlen sich meine Sehnen zunächst ganz normal an. Jedoch nach ca. 3km spüre ich sie auf eine Art, die mich beunruhigt. Sie melden sich so wie seit Tagen nicht. So darf ich auf keinen Fall weiter machen, wenn ich nicht den kompletten Abbruch meiner Reise riskieren möchte. Ich gehe langsam weiter und halte dann auf dem Waldweg einen Jäger an, der mich ein Stück mitnimmt und mir damit einen knackigen Aufstieg und einen zu langen Marsch erspart.

Nachdem er mich abgesetzt hat, laufe ich noch ein wenig und halte kurz vor meinem Ziel Golinhac noch einmal für das Mittagessen aus meinem Rucksack. Es gibt Thunfisch, Baguette, Käse, Gurke und 2 hartgekochte Eier. Eigentlich hätte das auch noch für das Abendessen reichen sollen, aber ich werde einfach nicht satt. Ist das der Anfang des Hiker-Hungers?

In Golinhac gibt es einen Campingplatz zusammen mit einer Herberge. Man hat dort eine herrliche Aussicht. Es ist ein kleines Dorf und sehr friedlich. Ich entscheide mich für die Übernachtung im Zelt und nehme am gemeinsamen Essen der Herberge teil. Viele Herbergen haben eine Küche für Gäste, in der man sich seine Mahlzeiten selbst zubereiten kann und bieten zusätzlich Halbpension an. So kann ich mir aussuchen, ob ich selbst koche oder mich bekochen lasse. Wenn ich selbst koche, ist das etwas besser für mein Budget und vor allem kann ich essen, was ich gerade mag. Meistens habe ich dann Lust auf Obst und Gemüse und eiweißhaltige Lebensmittel.

An diesem Abend auf dem Campingplatz in Golinhac nehme ich am Essen der Herberge teil, treffe bekannte Gesichter wieder und begegne Melanie aus Hamburg. Ich freue mich über ein Gespräch auf Deutsch. Leider ist dies ihr vorletzter Wandertag. Es ist ihr im Moment zu voll auf dem Jakobsweg. Da sie Zeit hat, will sie im Juni wiederkommen und dann auch ein Zelt mitnehmen, um bei Übernachtungen flexibler zu sein. Sie sitzt beim Essen neben mir und ich freue mich, ein paar Worte Deutsch zu sprechen.

Ich bestelle Aligot mit Bratwurst. Aligot ist Kartoffelpüree mit Käse. Es ist eine Spezialität der Region. Das Aligot verschwindet im "hohlen Zahn" und die Bratwurst füllt diese Lücke auch nicht. Also esse ich den Rest des Brotes vom Tisch. Melanie bemerkt meine hungrigen Blicke und es beginnt ein Gespräch über den gesteigerten Hunger, den viele empfinden. Jana aus Finnland hat ihre Pommes nicht aufgegessen. Schließlich leere ich ihren Teller. Damit bin ich aber immer noch nicht ganz satt. Wir entscheiden uns für ein Dessert. Melanie und ich nehmen Mousse au Chocolat. Es ist eines der leckersten Mousse au Chocolat, die ich je gegessen habe. Ich genieße sie langsam, schweigend und bin schier überwältigt von diesem enormen Ausmaß an "Leckerheit". Danach bin ich immer noch nicht satt. Ich bin im Alltag schon eine gute Esserin, aber diese Dimensionen an schwer stillbarem Hunger sind mir neu. Ich erinnere mich an meinen Vorsatz, meinen Jakobsweg genussvoller zu gestalten und bestelle ein zweites. Danach setzt endlich das erste Sättigungsgefühl ein. Aber richtig satt fühle ich mich nicht. Mein Blick fällt immer wieder auf die nicht aufgegessenen Pommes am Nachbartisch. - Ok, am eigenen Tisch die Reste zu essen, geht ja noch, aber sich am Nachbartisch satt zu essen ist ein ganz anderes Niveau. Ich lasse es einfach mal gut sein. Verhungern werde ich nach der Menge an Essen sicher nicht.


***

Woche 2: Von Le Puy-en-Velay nach Quatre Chemin, ca. 108km
Der Pilgerstress hört jetzt auf!

Von Le Puy-en-Velay nach St. Privat d'Allier
Beim Aufbruch aus Le Puy-en-Velay hole ich mir den offiziellen Pilgersegen in der Kathedrale Notre Dame ab. Ich besuche die Segnung der Pilger, obwohl ich Gottesdienste eher vermeide. Mir gibt dieser aber die Gelegenheit, ein bisschen zur Ruhe zu kommen und an die zu denken, die mich zu dieser Reise ermutigt haben und vor allem an die, die sie mir ermöglichen und auf ihre Art auch mittragen.
Der Pfarrer fragt ab, woher die Menschen kommen. Er zählt die Regionen Frankreichs auf und die Leute heben die Hand. Die anonyme Masse der Pilger wird dadurch greifbarer für mich. Ich frage mich, was sie auf diesen Pilgerweg bringt, was sie sich erhoffen und bis wohin sie laufen. Dann ruft er Belgien und Luxemburg auf, dann Deutschland. Ich hebe die Hand mit ungefähr 5 anderen Deutschen.
Die Segnung endet mit dem Auszug der Pilger aus der Kathedrale. Es gibt ein spezielles Tor, durch das die Pilger auf den Weg geschickt werden. Man geht zunächst eine Treppe mitten im Kirchenboden nach unten und hat dann den Blick über die Stadt. Ich nehme mir Zeit dafür und tue diese Schritte bewusst. Es ist, als würde ich durch den Bauchnabel der Kathedrale in den Weg hineingeboren.

Die Via Podiensis von Le Puy aus zu gehen ist etwas ganz anderes als die anderen Jakobswege, die ich bisher gelaufen bin. Während ich bisher meistens allein unterwegs war, laufen jetzt Pilger im Abstand von ca. 300m vor und hinter mir. Daran muss ich mich erst noch gewöhnen. 

Noch mehr als das macht mir die Suche nach einem Schlafplatz zu schaffen. Es ist schwierig, Unterkünfte zu finden. Ich verbringe meine gesamte freie Zeit mit Recherche und Telefonieren. Oft bekomme ich Absagen, weil die Herberge ausgebucht ist oder erreiche niemanden. Dadurch habe ich nicht genug Zeit, um zu entspannen und mal abzuschalten. Wenn ich nach dem Wandern am Zielort ankomme, dusche ich, wasche meine Kleidung und mache Dehnungsübungen gegen Muskelkater. Dann geht es an die Suche nach einer Unterkunft. Gegen 19:00 Uhr gibt es Essen oder ich koche selbst, wenn die Herberge eine Küche für Gäste hat. Um 20:30 Uhr verschwinden alle in ihren Betten. Der Tag von Pilgern und Wanderern endet früh.

 

Die erste Etappe nach meiner Geburt als Pilgerin führt mich nach St. Privat d'Allier. Dort komme ich in einer Gite (Herberge) im Vierbettzimmer unter. Abends koche ich in der Küche Nudeln mit Tomatensauce.

Von Sauges nach St. Privat d'Allier
 ich am nächsten Tag in St. Privat d'Allier nach Sauges aufbreche, ist es bewölkt und nebelig. Durch den Nebel zu laufen ist wie in eine Decke eingehüllt zu sein. Alles ist etwas gedämpft, unklar und mysteriös. Ich laufe ein wenig mit Gerard. Auch er hat vor, bis nach Santiago zu gehen. Als er den offiziellen Weg, ich jedoch eine Abkürzung gehen möchte, trennen sich unsere Wege vorerst.
So ist es unter Pilgern: Man geht ein Stück zusammen, trennt sich und mit etwas Glück trifft man sich wieder. Jeder geht seinen eigenen Weg, niemand ist zu etwas verpflichtet.

In Sauges bin ich in der örtlichen öffentlichen Herberge untergebracht. Leider gibt es dort kein WLAN und auch keinen Handyempfang. Wie soll ich mir für den nächsten Tag einen Schlafplatz organisieren ohne Telefon? Ich setze mich unweit der Herberge in eine verrauchte Bar. Dort gibt es WLAN und Empfang. Alle Herbergen in akzeptabler Reichweite von ca. 20km sind ausgebucht. Die nächste Möglichkeit ist in Les Faux. Das würde einen Marsch von üer 27k m bedeuten. Ich weiß, dass ich das schaffe - aber ob es für meinen Körper gut ist? Telefonisch erreiche ich dort niemanden. Das passiert häufig: Ich lande auf dem Anrufbeantworter und bitte um einen Rückruf, der nie erfolgt. Mittlerweile bin ich seit ca. 2 Stunden mit der Suche nach einer Unterkunft für den nächsten Tag beschäftigt und bin völlig entnervt. So habe ich mir den Jakobsweg nicht vorgestellt. Ich hatte erwartet, Freiraum zu haben für Begegnungen, Gespräche, schöne Erlebnisse. Stattdessen bin ich ununterbrochen mit meinen täglichen Routinen und der Suche nach einer Unterkunft beschäftigt.

An diesem Tag bin ich von diesen Zeiträubern so entnervt, dass ich in den Les Faux für den nächsten Tag per Internet ein Einzelzimmer buche. Im Schlafsaal scheint es keinen Platz mehr zu geben. Das ist ärgerlich, beruhigt mich aber auch, weil es damit für diesen Abend erledigt ist und ich weiß, dass ich am nächsten Tag einen Schlafplatz habe, auch wenn ich dafür weiter laufen muss, als für meinen Körper gut wäre und ich mehr bezahlen muss, als es mein Budget vorsieht. Beim Buchen gebe ich an, dass ich lieber in den Schlafsaal möchte, wenn ein Platz frei wird. Ich kann auch sehen, dass ein Dreibettzimmer eine günstigere Alternative wäre zu meinem Einzelzimmer und ich weiß von einigen Mitpilgern, dass auch sie für den nächsten Tag noch nichts gefunden haben.

Nachdem ich also ein Zimmer gebucht habe, gehe ich zurück in die Herberge und koche. Es gibt Nudeln mit Tomatensauce und Würstchen. Ich erzähle den anderen, dass ich in Les Faux ein Zimmer habe und mache Werbung dafür, sich ein Dreibettzimmer zu teilen. Maeva, eine Mitpilgerin, ist auch noch auf der Suche für sich und ihre Freundin. Sie schafft es irgendwie, die Herberge in Les Faux per Whatsapp zu kontaktieren und bittet um ein Dreibettzimmer für uns. Die Herberge antwortet, dass sie mir mittlerweile einen Platz im Schlafsaal zugewiesen hat und dass es dort noch Platz für Maeva und ihre Freundin gibt. So sind wir alle an diesem Abend noch froh gewesen, einen Schlafplatz für den nächsten Tag zu haben.

Von Sauges nach Les Faux

Am nächsten Tag laufe ich also von Sauges aus eine Etappe mit 27,5 km nach Les Faux. Meinem Körper war es dann doch zu viel. Es haben sich Schmerzen eingestellt in den Füßen, den Achillessehnen und den Knien. Nicht stark, aber mein Körper will mir wohl etwas sagen.

Ich wurde vor meiner Reise oft gefragt, ob ich denn keine Angst vor der langen Wanderung allein habe. Ich habe nie verstanden, wovor man Angst haben könnte. Aber Angst und Sorge in Bezug auf meine Wanderung kenne ich durchaus. Es ist meine größte Sorge, dass ich die Reise abbrechen muss, weil mein Körper nicht mitmacht. Ich wäre nicht die erste, der das passiert und - obwohl ich etwas trainiert habe - bin ich weder sonderlich fit noch sportlich. Ich habe keinen Plan B, für den Fall, dass ich abbrechen muss. Und ich bin so wahnsinnig neugierig auf den Camino del Norte und den Camino Primitivo. Ich würde gern fit und eingelaufen dort ankommen, denn die beiden Wege sind anspruchsvoll und ich werde Kraft und Kondition für sie brauchen. Auf keinen Fall möchte ich den überlaufenen Camino Frances - den "Camino Kerkeling" - gehen.

An diesem Abend in Les Faux koche ich nicht selber, sondern bekomme in der Herberge ein leckeres Essen in guter Runde mit meinen Mitpilgern. Der Schlafsaal hat ca. 25 Betten. Die Nacht verläuft ruhig.

Les Faux - Aumont-Aubrac

Am nächsten Tag geht es von Les Faux aus weiter nach Aumont-Aubrac. Es sind ca. 21km. Es ist herrliches Frühlingswetter und die Sonne strahlt. Nach vielen grauen und kalten Tagen kann ich das gut gebrauchen. Ich gehe durch eine weite, grüne Landschaft mit grauen Steinhäusern. Es ist fast wie in Irland. Diese Etappe ist so schön, dass ich oft anhalte und mich umschaue. Es sind auch nicht viele Menschen auf dem Weg an diesem Tag.

Plötzlich bemerke ich ein Brennen und Ziehen auf der Rückseite meiner Fersen. Ein leichter Schmerz macht sich bemerkbar, aber Blasen sind es nicht. Vermutlich melden sich die Sehnen in beiden Fußgelenken.
Die Schmerzen sind nicht schlimm, aber vorhanden. Wenn es sich um einen Urlaub von 2 oder 3 Wochen handeln würde, würde ich sie wahrscheinlich übergehen, denn dann wüsste ich, dass sich mein Körper zu Hause wieder regeneriert. Hier auf meiner langen Wanderung muss ich anders damit umgehen.

In Aumont-Aubrac komme ich gegen 18:00 Uhr an. Ich habe ein Hotelzimmer gebucht, denn ich werde am nächsten Vormittag einen Ort brauchen, an dem ich 3 Stunden lang an einer Videokonferenz teilnehmen kann, ohne dass jemand mit dem Staubsauger um mich herum putzt. Und ich werde wegen des Termins auch nicht weiterwandern. Es passt auch ganz gut, aus diesem Tag einen Pausentag zu machen. Ich habe mir von Anfang an vorgenommen, es langsam angehen zu lassen. Dabei hatte ich im Sinn, Etappen nicht über 20km zu laufen und oft Pausentage einzulegen.

Nach über einer Woche Schlafsaal freue ich mich über das Hotelzimmer ganz für mich allein. Es gibt dort Handtücher und sogar echte Bettwäsche! In Herbergen bekommt man - wenn überhaupt - meistens eine Art Wegwerfbettlaken. Es ist gibt außerdem eine Badewanne. Ich habe jetzt oft genug in Pilgerherbergen übernachtet um diese Dinge besonders zu schätzen. Ein heißes Bad nach einem Tag auf den Beinen istEspalion wunderbar. Bevor ich in der Wanne entspanne, gehe ich noch in die Wäscherei, um meine Sachen in die Waschmaschine zu werfen.
Der Pausentag in Aumont-Aubrac beginnt also mit etwas Arbeit, die ich in meinem eigenen Interesse auf keinen Fall bis zu meiner Rückkehr aufschieben wollte. Nach dem Termin ist die Arbeit dann auch wirklich erledigt und ich kann mich meinem Weg und meiner Wanderung widmen, die bisher ja eigentlich hauptsächlich aus Laufen und Organisieren von Schlafplätzen besteht.

Im Laufe des Nachmittags wird mir klar, dass meine größte Sorge nicht die Suche nach einer Unterkunft sein sollte, sondern die Schmerzen. Menschen, die sich mit Fernwandern besser auskennen als ich, raten mir, unbedingt sofort zu pausieren. Es ist also ein weiterer Pausentag fällig und ich muss eine Unterkunft im gleichen Ort suchen. Nach einigen Telefonaten habe ich Glück und finde für den nächsten Tag einen Platz im Mehrbettzimmer in der Herberge "La ferme du Barry" in Aumont-Aubrac.

Für den nächsten Tag ist mein Schlafplatz zwar klar, aber ich bin mittlerweile völlig entnervt, da ich einfach keine Zeit zum Abschalten habe. Das Organisieren nimmt so viel Aufmerksamkeit in Anspruch, dass mir der "Raum neben dem Weg" bisher verschlossen blieb. Ich kann auf gar keinen Fall so weiter machen.
Da die Übernachtung für den nächsten Tag erstmal sicher ist, komme ich etwas zur Ruhe und überlege mir, wie ich von der Organisiererei wegkomme.

Ich habe für solche Situationen - also Schwierigkeiten, einen Schlafplatz zu finden - ja eigentlich ein Zelt dabei. Es ist aber noch sehr kühl und ich bin hier auf ca. 900m Höhe. Mein Schlafsack hat eine Limitkomfort-Temperatur von ca. 2 Grad. Das bedeutet, sich alle Klamotten auf einmal anzuziehen und immer wieder fröstelnd aufzuwachen. Limitkomfort heißt soviel wie "Das kannst du machen, aber Spaß macht es keinen". Wir haben hier nachts noch Temperaturen von ca. 5 Grad. Das hält mich noch von Zeltübernachtungen ab. Im Ort gibt es einen Wanderladen. Dort sehe ich, dass sie Fleece-Inletts verkaufen, mit denen die Zeltübernachtung etwas weniger kalt wird. Damit würde ich mich trauen. Ich spreche mit dem Besitzer außerdem über meine Schmerzen. Inzwischen bin ich so weit, dass ich sogar darüber nachdenke, andere Schuhe zu kaufen.

  • Nicht, weil ich so große Schmerzen oder unpassende Schuhe hätte, sondern weil ich zu diesem Zeitpunkt nichts unversucht lassen möchte, damit ich meine Reise erfolgreich fortsetzen kann. Er hört sich meine Probleme an und berät mich sehr bedacht. Wir probieren einige Schuhe an und ich hätte sogar einen Schuh gefunden, der gepasst hätte. Wir probiere auch Fußbetteinlagen. Damit ist es gleich viel angenehmer. Letztendlich rät er mir, nicht gleich die Schuhe zu wechseln, sondern es erstmal mit meinen jetzigen Schuhen und den Einlagen zu probieren. Er hält meine Beschwerden für normale Anfangsbeschwerden, die sich wieder legen, wenn ich meine Wanderung vorsichtig und mit viel kleineren Etappen als bisher fortsetze. Ich kaufe also Fußbetteinlagen und ein Fleece-Inlett für meinen Schlafsack.

Dann ist es Zeit, von meinem Hotelzimmer in die Herberge mit Schlafsaal umzuziehen. Das Budget von Langzeitwanderern erlaubt anders als in einem Urlaub meistens nur minimale Ausgaben pro Tag und Nacht. In der Herberge " La ferme du Barry", wo ich diese Nacht schlafen werde, treffe ich Marie wieder. Ich kenne sie aus Le Puy-en-Velay. Sie ist zwischen 10 und 15 km pro Tag gegangen und hat mich dennoch inzwischen eingeholt. Anders als ich hat sie viel Spaß auf dem Weg. Sie nimmt sich Zeit, ist lange unterwegs, lernt die Gegend kennen und lässt es sich gut gehen. So kommt sie langsam aber beständig voran und hat dabei viel mehr Freude als ich.

Ich ahne, dass ich den Jakobsweg bisher wohl eher in einem Modus des Funktionierens gegangen bin. Ich frage mich, ob ich meinen Alltag nicht vielleicht ebenso gestalte. Marie reserviert im Übrigen auch nicht. Da ich wegen der Schmerzen jetzt kleinere Etappen gehen muss, werde ich versuchen, meinen Weg fortzusetzen, als wäre ich Marie. Marie hingegen hat ihren Körper so vorsichtig an die ständge Belastung gewöhnt, dass sie ihre Etappen verlängert. Sie hat mich durch ihr bedachtes Vorgehen abgehängt. Wie gerne hätte ich mich für ein paar Tage mit ihr treiben lassen wollen.

In der Herberge treffe ich zum ersten Mal Deutsche. Es sind Eberhard und Heike aus einem Nachbarstädtchen von Stuttgart, die den Jakobsweg etappenweise in ihrem Urlaub laufen. Es gefällt mir, beim Abendessen endlich mal Deutsch zu reden, denn die ständige Konversation auf Französisch beansprucht meinen sowieso schon rauchenden Kopf noch mehr.

Zum Abendessen gibt es Aligot. Das ist Kartoffelpüree mit einem bestimmten Käse und etwas Knoblauch. Aligot ist eine Spezialtät der Region Auvergne. Es ist sehenswert, wie es serviert wird. Die Köchin komme mit einem riesigen Topf an den Tisch, rührt in dem Aligot und lässt es lange Fäden ziehen.

Nach dem Abendessen lerne ich meine Zimmerpartnerinnen kenne. Ich hatte nämlich vorher noch keine Zeit dazu... Ich erzähle von meiner Zwangspause. Sie machen mir Mut für die Fortsetzung meiner Reise.

Ich kenne viele Berichte von Menschen, die ihre Wanderung abbrechen mussten und weiß nicht im Einzelnen, was dazu geführt hat. Wäre es vermeidbar gewesen durch mehr Training zur Vorbereitung? Oder durch größere Aufmerksamkeit auf die Signale des Körpers? Oder war es unvermeidlich? Ich habe damit keine Erfahrung und bin daher höchst besorgt - all der Aufwand, den ich und meine Kollegen getrieben haben, um mir den nötigen Freiraum zu schaffen! Ich möchte nicht, dass das umsonst gewesen sein soll und ich möchte so wahnsinnig gern den Küstenweg und den Camino Primitivo laufen! Und ich möchte eine Wanderung über eine so große Distanz erleben!

Ich habe allerdings auch eine kleine sabotierende Stimme in mir, die mich fragt, was ich mir eigentlich dabei gedacht habe, als Anfängerin gleich eine so lange Strecke laufen zu wollen. Kann das wirklich gutgehen? Andererseits haben es auch andere geschafft und manche von ihnen waren in weitaus schlechterer Verfassung als ich. Was haben sie getan, um an ihr Ziel zu kommen? Meine Zimmerpartnerinnen sind bereits nach Santiago de Compostela gelaufen und sind davon überzeugt, dass auch ich dort ankommen werde. Notfalls langsamer, mit kleineren Etappen und mehr Pausentagen. Und sie sagen mir, ich solle doch lieber auf die hören, die daran glauben, dass ich es bis Santiago schaffe, als auf meine eigene innere Saboteurin.

Da ich auf keinen Fall durch unbedachtes und verfrühtes Aufbrechen die Regeneration meines Körpers behindern möchte, entscheide ich mich für einen weiteren Pausentag in Aumont-Aubrac. Die Herbergen sind wie üblich voll belegt, wodurch mir nichts anderes übrigbleibt, als am nächsten Tag von der Herberge zurück ins Hotel zu ziehen. Ich bekomme das gleiche Zimmer und so ist es fast, als würde ich nach Hause kommen.

Durch diese Pause komme ich langsam zur Besinnung: So wie bisher geht es auf keinen Fall weiter! Ab sofort entsage ich der Jagd nach Unterkünften. Ich entscheide mich dafür, von Aumont-Aubrac aus ins Unbekannte zu laufen. Ich werde keine Unterkünfte mehr im Voraus organisieren. Das Telefonieren hört jetzt auf! Ich werde nach 10-13 km eine Unterkunft suchen und wenn ich keine finde, übernachte ich im Zelt. Für solche Situationen habe ich es ja dabei (und weil es mir bei entsprechenden Temperaturen Spaß macht) und ich bin jetzt etwas besser ausgestattet. Aber so wie bisher verbringe ich meine Zeit nicht mehr!

Der weitere unfreiwillige Pausentag verläuft nach diesem Entschluss entspannt. Ich weiß zwar immer noch nicht, wie Marie so viel Freude und Genuss auf ihrem Weg findet, aber dass ich Zeit habe zum Bummeln und Trödeln ist nach dem Stress der letzten 2 Wochen ein guter Anfang.

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Woche 1: Montfaucon en Velay bis Le Puy-en-Velay, ca 59 km

Endlich bin ich nach der langen Zeit der Vorbereitung und des Planens an meinem Ausgangsort Montfaucon-en-Velay in der Auvergne angekommen.

Ich möchte meine Reise mit einem Experiment beginnen: Ich wandere mit Zelt und habe vor, mir auch immer wieder schöne Übernachtungsplätze in der Natur zu suchen. Damit habe ich bisher noch keine Erfahrung und ich möchte es gleich ausprobieren. Zum einen geht es mir darum, die Hemmungen, die ich habe, gleich abzubauen, um dies nicht später auf der Reise tun zu müssen, wenn ich vielleicht andere Sorgen habe. Zum anderen wird mir das größere Freiheit und Flexibiliät ermöglichen. Es ist auch noch recht frisch und ich bin nicht sicher, wie gut ich dafür ausgestattet bin.  

Als ich an meinem Anreisetag um 21.30 Uhr das Zelt aufgebaut habe und eingerichtet bin, ist es noch mild, aber ich stelle mich auf fallende Temperaturen ein. Nach einiger Zeit schlafe ich ein, um dann fröstelnd aufzuwachen. Also ziehe ich alle Sachen an, die ich habe, einschließlich der warmen Sachen, die in einer Kurzschlussreaktion in letzter Minute noch eingepackt habe und meiner Regenhose. Gemütlich warm wird es damit nicht, aber es reicht, um zu schlafen. Es gibt keine Geräusche, die mich beunruhigen, alles ist friedlich.
Um 06:30 Uhr wache ich beim ersten Licht mit dem Zwitschern der Vögel auf und fühle mich gut. Ich packe alles zusammen, frühstücke und mache mich auf den Weg. Es ist ungewohnt, wieder unterwegs zu sein. Mir fehlt die Leichtigkeit meiner anderen Wanderungen. Das liegt zum einen an den Temperaturen, die ich nicht gewöhnt bin. Ich bin sonst im Sommer und bei gutem Wetter unterwegs. Jetzt macht mir die Kälte zu schaffen. Zum anderen würde ich wirklich gern in Santiago ankommen und weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Ich mache mir Sorgen darüber, ob mein Körper das mitmacht und spüre übervorsichtig in jede Empfindung rein, ob mein Körper sich beschwert.

Montfaucon-en-Velay - St. Jeures

Das Ziel der ersten Tagesetappe sollte St. Jeures sein. Als ich dort ankomme, finde ich heraus, dass eine der Herbergen nicht mehr existiert und die andere erst im Mai öffnet. Der Besitzer schickt mich 4km in den nächsten Ort. Unterwegs regnet es und der Wind ist eisig. Ich freue mich auf ein warmes Zimmer und eine heiße Dusche. In St. Jeures stelle ich jedoch fest, dass es dort nur eine einzige Übernachtungsmöglichkeit gibt. Das ist ein Acceuil Jacquaire. Das bedeutet, dass Privatleute Jakobspilger bei sich aufnehmen. Ich rufe an und habe großes Glück: Sie sind zu Hause und haben noch Platz für mich. 3 Minuten später sitze ich bei Gilbert und Ninou in der Wohnküche und bekomme einen heißen Tee. Beim Abendessen lerne ich Michel kennen, der nach Rom geht und noch ca. 1400km vor sich hat. Das ist die entgegengesetzte Richtung. Am nächsten Morgen bin ich ausgeschlafen und durchgewärmt und mache mich gut gelaunt auf den Weg. Die Auvergne zeigt sich kalt und grau. Die Natur scheint noch zu schlafen und das graue Basaltgestein der Häuser verstärkt diesen Eindruck noch. An diesem Tag fallen sogar Schneeflocken. Der Weg ist sehr einsam. Ich weiß aus den Gästebüchern und Unterkünften, dass andere unterwegs sind, sehe aber niemanden. Mir ist auch klar, dass sich das in Le Puy ändern wird. Le Puy ist nicht nur für viele ein beliebter Startpunkt, sondern dort treffen auch mehrere Jakobswege zusammen und so ist die Via Podiensis, wie der Jakobsweg ab dort genannt wird, belebter. 

Am 2. Tag meiner Reise komme ich wieder bei Privatleuten unter. Dort lerne ich Aude kennen. Am nächsten Tag gehen wir die Etappe nach Le Puy gemeinsam. Zum Glück habe ich Unterhaltung, denn dieser Abschnitt macht nicht besonders viel Spaß, weil er über Asphalt und neben Landstraßen verläuft. Aude erzählt mir, dass sie die Weltmeisterschaft im Eisschwimmen mitgemacht hat. Da friere ich gleich noch mehr. Sie bummelt nicht unterwegs, sie zieht mich mit und so sind wir schon um 13:00 Uhr in Le Puy. Wir gehen in eine Bar, ich begleite sie zur Post und dann trennen sich unsere Wege. Ich bin k.o. und gehe in meine Herberge, um mich auszuruhen. Der Nachmittag vergeht dann mit Waschen, Einkaufen und Kochen. Also wie zu Hause. Nur dass mir zu Hause nach einem Arbeitstag nicht alle Knochen weh tun und ich mich nicht täglich auf unbekanntem Terrain zurechtfinden muss.  Auch Wind und Kälte setzen mir zu. 

In Le Puy en-Velay komme ich in einer Herberge ("Gite" sagt man in Frankreich dazu) unter. Dort gibt es einen Schlafsaal mit 14 Betten und eine Küche.  In der Unterkunft lerne ich unter anderem Sam aus Südkorea kennen. Er will den Jakobsweg mit dem Fahrrad machen. Das wird er sich bei Decathlon am nächsten Tag kaufen und gleich losfahren Richtung Santiago de Compostella. 

Der nächste Tag, also der 4. Tag meiner Reise ist ein Pausentag. Ich schaue mir das Städtchen Le Puy en Velay an und besuche die große rote Marienstatue, die aus Kanonenkugeln gegossen wurde und St. Michel, eine Kapelle, die auf einem Vulkan gebaut wurde. 

Ich fühle mich irgendwie getrieben und gestresst. Immer habe ich etwas zu tun. Da mehr Leute als zu erwarten unterwegs sind, will ich meine Unterkünfte vorher reservieren. Also muss ich Etappen planen und mich ans Telefon klemmen. Der Modus des Vorbereitens, Planens, der mich in der Zeit vor meiner Reise beschäftigt gehalten hat, ist mit mir auf die Reise gekommen. Ich habe Mühe, mich zu entspannen. Ob es mit steigenden Temperaturen leichter wird? Ich kämpfe dann nicht mehr so mit der Kälte und kann spontan im Zelt schlafen und muss mir weniger Gedanken um eine Übernachtungsmöglichkeit machen. Jetzt ist es mit meinem Schlafsack noch zu kalt dafür. 

Diese Reise ist so gar nicht wie ein Urlaub. Zu wissen, dass es nicht wie in einem Urlaub nach 2-3 Wochen vorbei ist, verändert meine Wahrnehmung der Situation. In den nächsten Monaten soll der Weg mein zu Hause sein und ich werde täglich weiter ziehen. Wo ist hier Platz für Vertrautes?

Ich mir Zeit geben, um auf meinem Weg anzukommen - aber es erfordert Geduld.    


In einer Kirche habe ich folgendes Gedicht entdeckt:


                

Ich werde nicht nur eine Reise antreten….
….sondern ich werde unter der heißen Sonne gehen,
im strömenden Regen und im Sturm.
Die Sonne wird beim Gehen mein hartes Herz erwärmen,
der Regen wird aus meinen Wünschen einen Garten machen.
Meine Sohlen werden sich abnutzen und mit ihnen auch meine Gewohnheiten,
ich werde gehen und aus dem Gehen wird ein Vorgang werden.
Ich werde weniger das Ende des Weges erreichen, sondern vielmehr
das Verborgenste meines Wesens kennen lernen.
Als Pilger geht man sich selbst entgegen. Wehrlos sich selbst,
aber auch den anderen gegenüber und dem Herrn.
Ich werde Pilger sein, nicht nur Reisender.
Ich selbst werde Reise werden, Pilgerreise.

Jean Debruynne


Die 3 Tage durch die Auvergne waren für mich eher der "Prolog" zu meiner Reise. In Le Puy-en-Velay geht es erst richtig los. Ich besuche die Segnung der Pilger, obwohl ich nicht christlich bin und mit Gottesdiensten eher nichts anfangen kann. Mir gibt dies aber die Gelegenheit, ein bisschen zur Ruhe zu kommen und an die zu denken, die mich zu dieser Reise ermutigt haben und vor allem an die, die sie mir ermöglichen und auf ihre Art auch mittragen. 

Es macht sich ein Pilgerstrom auf den Weg. Auf meinen bisherigen Reisen waren immer nur wenige Menschen unterwegs und in den Tagen zuvor habe ich tagsüber niemanden getroffen. Nun bin ich etwas überwältigt von der Zahl. Wenn ich endlich eine Lücke gefunden habe, in der ich ein bisschen allein gehen kann, mag ich kaum stehenbleiben, um mal die Landschaft zu bestaunen. Die ist hier nämlich wunderschön. Es eröffnet sich ein Blick in die Weite. Es ist kalt, aber sonnig. Es ist eine wunderschöne Etappe, diese erste Etappe ab Le Puy.

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